Anrufe in Abwesenheit

 

Hätte es geregnet, hätte niemand Notiz von dem Geräusch genommen. So aber, an einem nahezu wolkenlosen Freitag, breiteten sich die Signale in der Fußgängerzone aus, wie ein Tropfen Sirup in einem Meer von Milch. Manchen erinnerten sie an das zaghafte Tuten eines Schlepperbootes weit vor dem Hafen, andere wiederum an Alarmsignale aus einem Science-Fiction-Film der Kinderzeit, an eine Fahrradhupe oder an das Gebrüll der Affen auf einer dschungelbewachsenen Insel. Neugier lag in der zum Schneiden schwülen Luft. Zögerlich schlichen die Menschen herbei, und versammelten sich im Halbkreis um das bronzene Denkmal, zu dessen Füßen das Handy lag. Nichts anderes als das, als ein Mobiltelefon, kein Boot, kein Film, kein Rad und keine Affen. Erst nach etlichen Minuten löste sich ein Mädchen aus der Menge, ging auf das Denkmal zu, nahm das Handy und verschwand. Es war ein hübsches Mädchen, sah man von der Schweinsnase ab, die es von all den anderen Mädchen unterschied.

 

Alles um sie herum war weiß, ein grelles Strahlen, so weit das Auge reichte. Jenseits der Kälte lag der Horizont unter einem hellgrauen Himmel, bis dorthin eine Welt aus Kristallen, ein einzelnes verbunden mit dem anderen, ein jedes verbunden mit allen. Sie versuchte, mit dem Eis zu reden, mit wem auch sonst, es antwortete nicht. Ihre Füße schmerzten, in den gefrorenen Schuhen waren Blasen entstanden. Sie drehte sich um, versuchte den Horizont von jenem zuvor zu unterscheiden, die Weite, das Eis, doch nichts davon gelang ihr. In der Ferne sah sie einen schwarzen Punkt, der mit jedem Schritt größer wurde, mit jedem Blick an Form gewann, bis aus dem Punkt ein Mensch erwuchs. "Wo warst du denn?", fragte sie, "wir haben Dich überall gesucht." Sie reichte ihm das Telefon. "Siebzehn Anrufe in Abwesenheit."

 

Er kannte niemanden auf der Party, die Gäste waren schön und reich. In der Ferne glaubte er, einen bekannten Modedesigner zu erkennen. Die Villa am See, das Gartengrundstück, die Pavillions, all das schüchterte ihn ein. Seine Hand wanderte in seine Jacke, griff nach seinem Handy, fand es nicht. Er ging zu einer Gruppe von Menschen, sicherlich Bänker, Werber, sogenannte Kreative, all das zusammen oder eins davon, und fragte nach dem Mädchen mit der Schweinsnase. "Sie war hier, ist schon längst wieder weg" erfuhr er. Er verließ die Feier und machte sich auf ins Bari des Jahres 1966, er war seiner Sache sicher. Die Straßen der Stadt waren voll und laut, ein eigentümlicher Geruch lag in der Luft. Straße um Straße suchte er ab, ging Kreise, ging lange Strecken und kurze Wege, ging stadtauf und stadtab, verlor die Hoffnung und fand sie wieder, ließ sich treiben, in den Vierteln, in den Gassen. Bis er sie in einem Café sitzen sah, er glaubte es zunächst nicht, doch war ein Irrtum kaum möglich. Er musste zu Sinnen kommen, blieb stehen, bevor er die Schritte in sich fand, die ihn zu ihr brachten. Als sie ihn sah, sprang sie auf, fast wie eine Feder, sie fielen sich in die Arme, um den Hals, hielten sich lange und fest, so, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen. Passanten schauten, manche neidisch, manche betreten. "Hier ist Dein Handy", sagte sie. Sie nahm die Schweinsnase ab und lächelte, und ihr Lächeln glich nichts weniger als der Sonne am schönsten Tag des schönsten Jahres am schönsten Ort der Welt.

Ein Mann

 

Ein Mann, über einhundert Jahre alt, legt sein Buch zur Seite. Er besteigt einen Zug und fährt durch das eisige Land. Ein Mann entsteigt seinem Gefängnis, er wirkt haltlos, so, als habe er kein  Rückgrat. So er je eine Fassung hatte, hat er sie verloren. Menschen, niemals gesehen, tragen einen Mann an Henkeln in den Winkel.  An dem Tag, an dem ein Lesender die Türe einschlägt, wird er komplett sein. Paul wäre stolz auf ihn.


Der Füllfederhalter

 

Fast hätte Lisa Fink das abgegriffene Etui übersehen, als sie ihren letzten Rundgang durch die Wohnung machte, bevor ihr Zug zurück nach Kassel fuhr. Es lag auf der Fensterbank, etwas versteckt hinter dem beigefarbenen Vorhang. Einem Altherrenvorhang, wie sie bei sich dachte, ein Stück Stoff, das die Einsamkeit in sich aufsog. Die Männer von der Umzugsfirma waren vor einer Stunde gegangen, und Lisa ärgerte sich insgeheim darüber, daß sie etwas, wenn auch nur ein Etui, zurückgelassen hatten. Sie wollte all das nicht mehr sehen, ihr Vater war nun seit zwei Wochen tot, und nichts sollte sie an ihn erinnern.

 

Natürlich erinnerte sie sich. Zögerlich trat Lisa ans Fenster und nahm das Etui in die Hand, es war verstaubt, das Leder hatte Risse. Sie musste es nicht öffnen, um zu wissen, was sich darin befand. Vorsichtig bewegte sie es in der Hand, strich über das glatte Leder, legte es zurück. Lisa dachte an den Schrank ihres Vaters, damals in der elterlichen Wohnung, dachte daran, das es diesen Schrank eigentlich nicht gab. Es war ihr als Kind streng verboten, ihn zu öffnen, oder gar Dinge herauszunehmen, anzuschauen, diese Dinge ihrem Vater zuzuordnen. Später, als Jugendliche, als junge Erwachsene, hatte sie kein Interesse mehr daran. Als sie auszog, ließ sie nicht nur ihre Eltern hinter sich. Ein einziges Mal nur hatte sie es gewagt, den Schrank zu öffnen, siegte die kindliche Neugier in ihr, hatte sie mit der Unbedarftheit einer siebenjährigen die Verbote der Erwachsenen ignoriert. Damals, als Kind, hatte Lisa das Etui geöffnet, das neben einer Schachtel mit seltsamen Ansteckern gelegen hatte, Anstecker, deren Bedeutung sich Lisa erst sehr viel später erschloß. In dem Etui befand sich ein Füllfederhalter, und Lisa hatte gerade fünf Worte auf einen kleinen, karierten Zettel geschrieben, als ihre Eltern nach Hause kamen.

 

Sie war auf die Ohrfeige nicht vorbereitet gewesen. Ihr Vater hatte sie nie geschlagen, weder vorher, noch hinterher. Den Schmerz aber konnte Lisa auch heute noch spüren, und beim Gedanken daran schossen ihr Tränen in die Augen. Sie hatte damals nicht verstanden, wie der Vater so roh sein konnte, was geschehen war, warum er sie schlug, sich umdrehte, und wortlos das Zimmer verließ. Lisas Vater war streng, er hatte Regeln aufgestellt, erklärt hatte er sie nie. Jahre später einmal, eines Sonntags in der Küche der elterlichen Wohnung, hatte Lisa sich getraut, ihre Mutter zu fragen, ob diese sich an die Ohrfeige erinnere, aber genau wie ihr Vater war ihre Mutter kein Mensch, der viele Worte verlor. Der Vater habe damals mit diesem Füllfederhalter seine Urteile unterzeichnet, murmelte sie bloß, bevor sie Lisa bat, den Tisch im Esszimmer zu decken und sich ganz ihren Töpfen widmete.

 

Lisa schaute aus dem Fenster, löste ihre Gedanken von der Vergangenheit und weinte. Ihr war leicht übel, es war nicht mehr viel Zeit, bevor der Zug fuhr, und sie hatte noch einige Minuten zu gehen. Sie holte tief Luft. Ohne hinzuschauen griff Lisa den alten, messingfarbenen Reißverschluß, öffnete das Etui und schaute hinein. Dort lag der Füllfederhalter, fixiert mit einem Gummiband, das Horn mit den Jahren ausgeblichen. Und noch etwas befand sich in dem Etui, etwas, das Lisa schwindeln ließ, etwas, das sie nicht erwartet, vergessen, für immer aus ihren Erinnerungen gestrichen hatte. Sie nahm den kleinen, karierten Zettel in die Hand, faltete ihn auf, und las die Worte, die sie vor fast fünfzig Jahren mit ungelenker Schrift geschrieben hatte. „Papa, ich habe dich lieb“ stand dort, stand immer da, für Jahre, im Etui, im Schrank, verschlossen im Herzen des Vaters, versteckt hinter der einzigen Ohrfeige, hinter Schmerz und Wut und Fragen.

Schul-Uhu-Report 8/ "Es zwackelt unterm Federkleid"



Szene 8, Minute 23-29. "Auf dem Nachhauseweg"

 

Er: Bu-ho.

 

Sie: U-hu?

 

Er: Bu-ho!

 

Sie: U-hu.  schweigt.

 

Er: Bu-ho! Bu-ho!

 

Sie: U-hu?

 

Er: Bu-ho. kneift ihr ein Auge.

 

Sie: Wiwiwiwi.

 

Er: Hohohohoho.

 

Sie: Wiwiwiwiwiwiwiwiwiwiwi.

 

Er: Hohooooooohohooooooo

 

Sie: Wi! Wi! Wi! Wi! Wi!

 

Er: Hohoho

 

Vater: Gräck!

 

Sie: U-hu???

 

Er: Hohohoho???

 

Sie: Gräck!

 

Er: Gräck!

 

Vater: U-hu!

 

Sie: lächelt verschämt.

 

Sie: U-hu... flüsternd.

 

Er: Hohoho?

 

Sie: Wiwiwi.

 

Beide: Uhähähäho.

 

gehen ab.